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Wohnhaus und Werkstatt Leonard

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Kanatnaja-Straße 9

Um die Jahrhundertwende wurden in Odessa viele Villen gebaut, und eine der schönsten ist Haus Leonard. Die architektonische Gestaltung illustriert anschaulich den sukzessiven Wechsel vom verschulten Eklektizismus hin zur freien und sinnlichen Formensprache der Frühmoderne.

Gebäudeart: Villa
Baustil: Eklektizismus, Jugendstil, Renaissance
Architekt: Moisej I. Linetski
Bauzeit: Anfang 20. Jh.
Status: Baudenkmal von lokaler Bedeutung

Die Straßenfassade

Gesamtansicht Gesamtansicht

In den meisten Adress- und Telefonverzeichnissen der 1900-er Jahre sind die Erben der Familie Leonard als Besitzer des Grundstücks in der Kanatnaja-Straße 9 (zuvor 7) genannt. Manche Ausgaben liefern genauere Erkenntnisse. So wird u.a. Karl I. Leonard, ein Steinmetz mit der Werkstatt unter der genannten Anschrift, erwähnt.

Werbung der Werkstatt Karl I. Leonard

Hier lag auch die Spiegelwerkstatt von Georgi I. Leonard. In der Zeit von 1905-1910 gingen das Haus und die beiden Firmen in den Besitz von A. Leger über und blieben bis zur Oktoberrevolution in seinem Eigentum.

Werbung der genossenschaftlichen Steinmetzwerkstatt, 1914

Werbung der Firma A. Leger

Werbung, 1910 Werbung, 1914

Mitte der 1900-er Jahre wurde ein Teil der Wohn- und Geschäftsräume vermietet. Kurz vor dem Besitzerwechsel befand sich hier die Artzpraxis von Awgust A. Schwarz (nach 1907 nicht mehr belegt). Nach 1907 wohnte im Haus Aleksander N. Smirnow, ein Prüfingenieur der Russischen Gesellschaft für Schifffahrt und Handel, und von 1907-1909 zog die chemische Fabrik des Ingenieurs I. Kramer in die Kanatnaja-Straße 9. Die Werbung der Fabrik findet sich in den einschlägigen Verzeichnissen bis 1913: Hier wurden Fruchtaromen und Lebensmittelfarbe «für Konfekt, Feingebäck, Liköre, Sirup, Dauerwaren, Öle usw.» hergestellt.

Werbung der Fabrik I. Kramer

Werbung, 1910 Werbung, 1914

In der Zeit nach der Oktoberrevolution hat die Villa im Folge des Umbaus zu Gemeinschaftswohnungen ihre Innenausstattung fast komplett eingebüßt. Dagegen ist die Straßenfassade inklusive Stuckkartusche mit dem Monogramm der ersten Besitzer — L wie Leonard — nahezu vollständig erhalten. Seit Beginn 21. Jh. wird das Vorderhaus nicht mehr zu Wohnzwecken, sondern fast komplett als Büro- und Geschäftshaus genutzt.

Das Kulturdenkmäler-Verzeichnis von Odessa liefert keine Informationen zum Baujahr oder Architekten, aber die Straßenfassade weist zahlreiche für das frühere Schaffen des Architekten Moisej I. Linetski charakteristische Details und Dekorelemente auf. Aus dieser Zeit stammen zwei andere Entwürfe von Linetski: das benachbarte Haus Korone (1900-1903, Kanatnaja-Straße 7, in Zusammenarbeit mit G.F. Lonski) und Haus Ambelikopulo (1901, Didrichson-Straße 7), die sich stilistisch und gestalterisch sehr ähneln. Im Vergleich dazu weist Haus Leonard neue, individuelle künstlerische Züge auf, die dennoch die unverwechselbare Handschrift von Linetski erkennen lassen.

Die Bebauung des langen und eher schmalen Grundstücks besteht aus dem Vorderhaus und zwei Hinterhäusern. Das ans Vorderhaus rechtwinklig anschließende Hinterhaus gleicht dem erstgenannten Bau in Höhe, was Kontinuität und Ganzheit vermittelt. Andres als das Vorderhaus und das zweite Hinterhaus ist es zweigeschossig und hat ein Souterrain, deshalb sind die Decken hier niedriger. Das zweite Hinterhaus liegt im Innenhof parallel zum Vorderhaus.

Die symmetrische Straßenfassade ist elfachsig, an den Fassadenrändern sind es durch schmale Fensterpfeiler geteilte Doppelachsen. Den gestalterischen Hauptakzent setzt der untiefe Mittelrisalit mit den die Balkonkonsolen tragenden Atlanten im Erdgeschoss. Im Obergeschoss wird der Risalit durch ionische Doppelsäulen rechts und links von der Balkontür betont.

Der Mittelrisalit mit Atlantenfiguren

Gesamtansicht Gesamtansicht Atlantenfigur rechts Atlantenfigur links Sockelverzierung
Balkonkonsole

Der Mittelrisalit im Obergeschoss

Gesamtansicht: Balkon, Vordach und Doppelsäulen Säulenkapitele und ein Ausschnitt des Vordachs Vordach, ein Dekorelement

Die äußeren Balkonecken sind abgerundet und nach innen gewölbt und korrespondieren so mit den äußeren Ecken des Vordachs. Über der Balkontür ist ein halbrundes mit einer ovalen Stuckkartusche und dem L-Monogramm verziertes Paneel. Das Monogramm schmückt auch die Mitte des Vordachs.

Paneel und L-Monogramm über der Balkontür

Zwischen den Atlantenfiguren lag früher ein Fenster und zuvor vermutlich eine Werkstatt-Tür, wovon die erhaltenen Treppenstufen zur Straße hin zeugen. Später wurde die Fensteröffnung wieder zur Türlichte umgebaut.

An den Rändern der Fassadenfläche sind zwei weitere Risalite, die in der Breite und Tiefe dem Mittelrisalit gleichen. Sie sind — bis auf die Einfahrt im rechten Risalit — identisch gestaltet.

Das Erdgeschoss, Einfahrt im linken Risalit

Einfahrt von der Straße aus Schlussstein
Einfahrt innen von der Straße aus Einfahrt vom Innenhof aus Einfahrt vom Innenhof aus

Das Obergeschoss, linker Risalit, doppelte Fensterachsen

Gesamtansicht

Die markanten Fassadenelemente der Seitenrisalite im Obergeschoss sind die Rundbogenfenster in den Doppelachsen, die mit der Verkleidung im Renaissance-Stil verziert sind. Die Rundbögen schmücken Paneele mit ovalen Kartuschen und Greifern an den Seiten; die Dekorelemente sind heraldisch angeordnet.

Die beiden Paneele sind fast identisch: Die linke Kartusche ist mit dem Merkurstab dekoriert und in die rechte sind ein Puttenkopf und Zeichenutensilien eingearbeitet. Letztere Elemente finden sich auch an der Straßenfassade des Hauses Mendelewitsch in der Marazlijewskaja-Straße 28 (1909, Entwurf von Prochaska): An einem Flachrelief ist ein Putto zu sehen, der mit einem Zirkel auf der Weltkugel etwas abgreift.

Die Fenster im Obergeschoss, Risalit rechts

Gesamtansicht Kartusche mit Puttenkopf und Zeichenutensilien

Die Fenster im Obergeschoss, Risalit links

Gesamtansicht Gesamtansicht Kartusche mit dem Merkurstab

Die Fassadenflächen zwischen den Risaliten sind drei Achsen breit. Die Fenster beider Stockwerke sind reich verziert, und die meisten Stuckelemente fallen durch ihre Größe und Ausdrucksstärke auf.

Die Schlusssteine im Erdgeschoss sind mit großen sich abwechselnden Druiden- und Löwenmasken dekoriert, dabei ist die Löwenmaske immer in der Flächenmitte platziert. Ähnliche Löwenmasken finden sich über den Fenstern im ersten Stock des benachbarten Hauses Korone.

Die Fassadenverzierung zwischen den Risaliten, Erdgeschoss

Gesamtansicht Druidenmaske Druidenmaske Löwenmaske Löwenmaske

Die Fensterverkleidung beider Stockwerke ist rustiziert, dabei ist die Rustizierung der Fensterpfeiler deutlich schlichter gehalten. Im Obergeschoss ist die Fensterverkleidung durch flache Verdachung betont, darunter sind Masken menschenähnlicher mythischer Wesen angebracht.

Die Fassadenverzierung zwischen den Risaliten, Obergeschoss

Gesamtansicht Mit einer Maske verzierte Fensterverdachung Fensterkonsole

Der Hauseingang befindet sich neben der Einfahrt. Die Haupttreppe hat breite Stufen aus Marmor, wirkt darüber hinaus aber eher wenig repräsentativ. Das Treppengeländer ist schlicht gehalten und dennoch in einer solchen Ausführung in Odessa nicht oft anzutreffen. Das Treppenhaus mit zwei Treppenläufern und einem halbrunden Treppenabsatz ist der einzige Innenraum der Villa mit Dekorelementen aus der Bauzeit.

Die Haupttreppe

Gesamtansicht

Im Unterschied zur Straßenfassade hat die Hoffassade des Vorderhauses weder Dekor noch Verkleidung.

Die Hoffassade

Gesamtansicht Gesamtansicht

Die schmucklosen Hinterhäuser haben schlichte eklektische Haustreppen, Fensterrahmen und Türen, und ihre Ausführung lässt den Schluss zu, dass die Hinterhäuser vor dem Vorderhaus errichtet wurden.

Die Hinterhäuser

Hinterhäuser, Gesamtansicht Hinterhaus im Innenhof, Gesamtansicht

Das ans Vorderhaus anschließende Hinterhaus

Eingangstür Eingangstür Eingangstür, ein Dekorelement Außentreppe über dem Souterrain
Treppenhaus Treppengeländer
Wohnungstür

Insgesamt stellt der Entwurf eine Abkehr vom für das damalige Odessa typischen Eklektizismus dar und ist ein anschauliches Beispiel für den Linetskis sukzessiven Stilwechsel. Gerade bei der Gestaltung der Villa Leonard setzte der Architekt zum ersten Mal viele für sein späteres Schaffen charakteristische Dekorelemente ein, deren Formensprache bereits an dieser Stelle modern wirkt. Die Tendenzen, die sich hier andeuteten, fanden ihre Entfaltung im Entwurf des etwas später errichteten Miets- und Geschäftshauses Grinberg (1902, Rischeljewskaja-Straße 24, in Zusammenarbeit mit S. Galperson).

Literatur- und Quellenverzeichnis

Von:

2018